Menschenkenntnis

Was ist Menschenkenntnis? Was ist Menschenkenntnis nicht? Was ist der Vorteil von Menschenkenntnis? Welche Gefahr birgt vermeintliche "Menschenkenntnis"?

Psychologisches Wissen zum Thema Menschenkenntnis: Was ist Menschenkenntnis? Was ist Menschenkenntnis nicht? Was ist der Vorteil von Menschenkenntnis? Welche Gefahr birgt vermeintliche "Menschenkenntnis"?

Einführung in das Thema

"Menschenkenntnis" ist eine von vielen Menschen angestrebte, im Leben erworbene, zumeist unterstellte bzw. fiktiv angenommene "Fähigkeit", die dazu dienen soll, Menschen "richtig" einzuschätzen, "richtig" zu beurteilen und darauf basierend "richtige" Entscheidungen zu treffen. Menschenkenntnis wird von Menschen ebenfalls angestrebt, um andere Menschen zum Vorteil des jeweiligen "Menschenkenners" zu manipulieren z.B. im Verkauf/Vertrieb.

Nicht selten wird "Menschenkenntnis" verwechselt mit "Beobachtungsgabe" oder "Intuition".

 

 

Die Basis von Menschenkenntnis

Obgleich die menschliche Empathie aufgrund der zivilisatorischen Einflüsse immer mehr abbaut, ist das, was den Menschen immer noch einzigartig macht, u.a. die Fähigkeit, in umfassenden sozialen Netzwerke zu interagieren, zu kooperieren und mit anderen mitzufühlen. Entsprechend dieser Fähigkeit ist das menschliche Gehirn darauf ausgerichtet, andere Menschen blitzschnell einzuschätzen und sich ebenso schnell ein erstes Urteil zu bilden.

 

Nur 350 Millisekunden benötigt der Mensch zur automatischen Auswertung der Mimik einer Person und zur Erkennung seiner Stimmung. Dabei funktioniert das menschliche Gehirn wie ein Gesichtsdetektor. Wir sehen sogar Gesichter, wo überhaupt keine sind. Spiegelneuronen werden aktiviert und scannen unser Gegenüber. Dabei ist unsere Einschätzung sogar sehr präzise (Siehe "Intuitive Gesichtserkennung").

Trotz dieser phänomenalen neurobiologischen Fähigkeit ist die psychologische Erkenntnis eher ernüchternd: Das, was Menschen als "Menschenkenntnis" bezeichnen, basiert auf subjektiven Theorien (impliziten Persönlichkeitstheorien) und Menschenbildannahmen (z.B. Vorurteilen), nicht aber auf objektiv überprüfbaren (messbaren) Tatsachen, folglich nicht auf professioneller bzw. wissenschaftlicher Psychologie.

 

Warum ist das so?

Wer kann schon in Kürze sagen, dass das, was er sieht, wirklich immer zutrifft. Die gemessene Fehlerquote ist viel höher als man denkt. Schließlich verhalten sich Menschen heute wesentlich vielfältiger als früher in der Steinzeit. Einfach erklärt ist es wie bei Spuren in der Kriminalistik: Es gibt echte Spuren, täuschende Spuren und vorgetäuschte Spuren (bzw. Trugspuren und fingierte Spuren). Ähnlich geht es bei der Erkennung und Einschätzung von Menschen zu: Man kann selbst einem Trugschluss unterliegen (z.B. aufgrund eines Beobachtungsfehlers, eines Wahrnehmungsfehlers, einer Wahrnehmungsverzerrung, einer Wahrnehmungstäuschung, einer Wahrnehmungsstörung oder allein aufgrund bestimmter Wahrnehmungsabläufe) oder man wird - was ebenfalls in der Natur des Menschen liegt - "hereingelegt". Dazu reicht allein die bewusste Selbstbeherrschung oder die Disziplin bzw. Selbstdisziplin einer Person zur Wahrung des Scheins - allein aufgrund des natürlichen Strebens nach Anerkennung - ein gesundes menschliches Grundmotiv.

 

Hinzu kommt anderes bzw. geändertes Verhalten aufgrund von physischen Erkrankungen sowie aufgrund von Persönlichkeitsstörungen und psychischen Erkrankungen. Statistisch betrachtet, kann folglich insgesamt mindestens jede zweite Person allein wegen ihrer physischen und psychischen Konstitution ein anderes bzw. geändertes Verhalten zeigen, das der eigene innere Menschenerkennungsdetektor fehlinterpretiert. Was beim natürlichen Steinzeitmenschen noch relativ einfach funktionierte, wird in der heutigen modernen Zivilisation teilweise völlig auf den Kopf gestellt. Die größte Gefahr bei der Einschätzung von Menschen lauert jedoch dann, wenn wir bestrebt sind, andere bewusst einzuschätzen. Wir haben dann nämlich ein Motiv. Und allein das verfälscht die Realität.

 

Menschenkenntnis als "Beobachtungsgabe"

Häufig wird Menschenkenntnis mit "Beobachtungsgabe" verwechselt. Aber auch bei dem, was unter "Beobachtungsgabe" verstanden wird, besteht ein gravierender Unterschied zu dem, was die professionelle bzw. wissenschaftliche Psychologie unter "Verhaltensbeobachtung" versteht. Allein der Begriff "Menschenkenntnis" entbehrt bereits vom Grundsatz her den Techniken einer realistischen Beobachtung.

 

Vermarktung & Überzeugung

Das, was man unter Menschenkenntnis versteht, lässt sich recht gut vermarkten. Es gibt unzählige Literatur, Seminare und auch Filme, in denen Menschenkenntnis eine Schlüsselfunktion zugeschrieben wird. Wer möchte nicht gerne so klug wie Sherlock Holmes oder andere TV- und Literatur-Sherlocks sein? Hinzu kommt die eigene Überzeugung vom Vorhandensein eigener Menschenkenntnis als vermeintliche "besondere Fähigkeit". Schließlich erfährt man im Leben, dass sich die eigene Einschätzung zu bestätigen scheint. Dass allein dieses Gefühls-Erleben der Bestätigung bereits ein Wahrnehmungsfehler ist, ist vielen gar nicht bewusst. Vielmehr scheint uns Menschenkenntnis das Leben einfacher zu gestalten. Das tut es auch - nur eben nicht so wie man meint.  

 

Der eigentliche Sinn von Menschenkenntnis

Bereits in der Steinzeit war Menschenkenntnis wichtig, um bei Begegnung mit fremden Menschen recht schnell über den ersten Eindruck das Freund-Feindbild, Paarungsbereitschaft oder auch soziale Umgangsformen schnell und unkompliziert abzugleichen. Menschenkenntnis diente insofern dem Überleben und der Fortpflanzung. Insofern ist Menschenkenntnis eine Art Überlebens-Instinkt, vergleichbar mit dem der Tiere.

 

Dieser alte Instinkt wirkt auch heute noch. Er gestaltet sich nur viel komplexer: Im Laufe seines Lebens entwickelt jeder Mensch für sich selbst eigene, individuelle spezifische Persönlichkeitstheorien, die wiederum stereotype Urteile bilden. Stereotype Urteile haben eine entlastende Funktion im täglichen Miteinander (Sozialverhalten). Sie dienen als Orientierungshilfe und schaffen einen Bezugsrahmen für das Verhalten gegenüber anderen Menschen, insbesondere gegenüber fremden Personen. 

 

Aufgrund unserer impliziten Persönlichkeitstheorien hat der "Erste Eindruck" von einem anderen Menschen eine starke Entlastungsfunktion. Er reduziert die soziale Spannung, die bei der Begegnung mit fremden Menschen entsteht und schafft eine schnelle unkomplizierte Einschätzung. Diese schnelle unkomplizierte Einschätzung wird allein dadurch geschaffen,

dass wir uns an beobachtbaren Merkmalen orientieren (z.B. Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Herkunft, regionale Herkunft, Wohnort, Anschrift, Erscheinungsbild, Kleidung, Stil, Accessoires, Sauberkeit, Sprache, Sprechweise, Körpersprache, Umgangsformen, Ausbildung, Arbeitgeber, Sternzeichen usw.), um daraus Rückschlüsse auf Eigenschaften zu ziehen, die uns verborgen bleiben, weil sie selbst nicht beobachtbar sind (z.B. Intelligenz, Kompetenz, Ehrlichkeit, Intelligenz, Gemüt, Stimmung, Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit usw).

 

Derartige Merkmale, die wir auch als Signale der Persönlichkeit deuten, stellen jedoch nur eine Orientierungshilfe dar. Bei der Einschätzung von Menschen, die entsprechende Signale bewusst einsetzen (geschulte Verkäufer, Vertriebler, Bewerber, Politiker) und manipulativ nutzen, kann sich unsere Einschätzung auf Basis von Menschenkenntnis jedoch kontraproduktiv auswirken.

 

Die Wahrheit

In Wirklichkeit ist gerade jene Fähigkeit, von der sich Menschen einen Vorteil sowie Sicherheit und Überlegenheit versprechen, genau dann ein gravierender und schädlicher Nachteil, wenn man "Menschenkenntnis" nicht hinterfragt und sogar bestrebt ist, auf der Basis dieser Fähigkeit wichtige Entscheidungen zu treffen.

 

Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass die Annahme von Menschenkenntnis bzw. das Streben danach noch aus der Steinzeit kommt und - obgleich heute differenzierter - teilweise immer noch den Denkmustern unserer Vorfahren entspringt (z.B. schnelle Freund-Feind-Erkennung etc.). 

 

Obwohl das, was wir als Menschenkenntnis bezeichnen, in einfachen (ursprünglichen = primitiven) Lebenssituationen durchaus nützlich sein kann, ist Menschenkenntnis aus psychologischen und neurowissenschaftlichen Gesichtspunkten heraus betrachtet, ein schwerwiegender Wahrnehmungsfehler, der nicht nur Stereotype bedient, sondern Fehleinschätzungen und Fehlurteile geradewegs impliziert und zu Täuschungen und Selbsttäuschungen führt. Menschen, die von ihrer Menschenkenntnis überzeugt sind oder sich gar als "Menschenkenner" ihrer Menschenkenntnis rühmen, unterliegen nicht selten zusätzlich weiteren Fehlern. Dazu zählt unter anderem der sogenannte Überlegenheitsfehler.

 

Manipulative Nutzung des naiven Glaubens an Menschenkenntnis 

Geschickte Verkäufer und/oder sozialkompetente Menschen nutzen tagtäglich die angenommene Menschenkenntnis anderer, um ihre eigenen Ziele mit Hilfe von Techniken, die auf eben jener Menschenkenntnis basieren, ggf. auch mit Hilfe entsprechender Tarnung und Täuschung zu erreichen. Im naiven Glauben an die eigene Menschenkenntnis und deren Nutzung besteht die Gefahr, manipuliert zu werden. Dabei gilt es, zu berücksichtigen, dass entsprechende Manipulationen nicht nur von Menschen ausgehen, die man als Betrüger wertet.

 

Nicht jeder, der sogenannte Menschenkenner manipuliert, ist ein Betrüger. Seit Menschengedenken zählt die bewusste Ausnutzung naiver Menschenbildannahmen - wie bei den Tieren auch - zu den Grundbedürfnissen und Motiven von Menschen. Als soziales Wesen strebt jeder Mensch in gewisser Art und Weise nach Anerkennung und nach einem guten Eindruck. Wie das Tier, so ist auch der Mensch bestrebt, sich vor seiner Umwelt zu schützen (zu tarnen und zu täuschen) und seine Ziele zu erreichen. Dazu senden Menschen im Hinblick auf Entscheider auch bewusst entsprechende Signale aus, die seinem Ziel dienlich sind und bei Entscheidern eine passende Wirkung erzielen.

 

Die Ausnutzung der Naivität von Menschenkenntnis und impliziten Persönlichkeitstheorien ist menschlich. Sie ist logisch und verständlich und findet überall Anwendung, sowohl unbewusst, aber auch ganz bewusst und dazu sehr individuell z.B. bei der Partnerwahl (z.B. Date), in der Werbung und Eigenwerbung (z.B. Image-Engineering, Vorbereitung auf Vorstellungsgespräche, Vorbereitung auf Gesprächspartner), im Marketing (z.B. Vertrieb, Image-Vertrieb, Branding, Kundenorientierung etc.), strategisch und taktisch (z.B. Trojanisches Pferd, Trojaner-Virus, Hinterhalt, Zeigen von Schwäche, Hannibals Canae-Taktik Scipios Defence usw.), sozial (z.B. Sozialtuning, bewusster Einsatz von sozial kompetentem Verhalten) und kommunikativ (z.B. Status-Kommunikation) sowie zum Zwecke der richtigen Wirkung und Wirkungsgewissheit (z.B. Wirkungs-Analysen, Imageberatung, Outfit- und Styling-Beratung, Kommunikationsberatung).

 

Sowohl das Streben nach einer bestimmten Wirkung (nicht nur bei Autos, Markenjeans und Mobiliar), sondern auch das Streben nach einer bestimmten Einschätzung (betrifft alle Menschen und alle Berufsgruppen) ist menschlich (auch das Streben nach Überlistung der Menschenkenntnis). Dies wird jedoch häufig negiert z.B. aus Schamgefühl oder zum Zwecke der Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes (siehe Selbstwertdienliche Verzerrung oder Effekt der kognitiven Dissonanz-Reduktion). 

 

Abhängigkeit vom Status (beruflich, gesellschaftlich)

Die Notwendigkeit der Tarnung und Täuschung ist zudem abhängig vom gesellschaftlichen Status. Sie erfolgt z.B. unter anderem über bewusste Aufwertung durch Status-Symbole oder durch bewusste Abwertung (Understatement). Die Tarnung und Täuschung basiert nicht nur auf bestimmten Lebensphilosophien, sondern auf regelrechten Strategien. (z.B. Motiv-Strategien).

 

Ein Politiker wird - ebenso wie ein prominenter Schauspieler - stets bemüht sein, (s)eine Rolle zu spielen, sein Image zu pflegen und sein Gesicht zu wahren. Tut er dies nicht, wird er von der Öffentlichkeit (z.B. den Medien) kritisiert und sanktioniert. Für manche hängt der Beruf und die gesamte Zukunft davon ab, den Erwartungen anderer stets gerecht zu werden. Allein schon aus diesem menschlichen Streben heraus, wird er tarnen und täuschen, um weiter zu leben und weiter entsprechende Anerkennung zu finden.

 

Ein Pilot, der unbedingt fliegen will, weil dies sein Lebensziel und Lebensinhalt ist, wird - über die Pflege seines Images hinaus - selbst nach bestem Wissen und Gewissen alles dafür tun, damit er als fähig und "flugtauglich" erscheint. Die Alternative wäre - neben finanziellen Einbußen und einem Image-Schaden - die Aufgabe seines Lebensinhaltes. Selbst physische und psychische Erkrankungen werden ihn, solange er sein Ziel verfolgt, nicht davon abbringen können, sich nach außen möglichst physisch und psychisch gesund zu geben. Daher wird er auch bei einer medizinischen und/oder psychologischen Untersuchung bemüht sein, ein entsprechendes Bild von sich abzugeben und die an ihn gerichteten Erwartungen zu erfüllen. In dieser Hinsicht zeigt die berufliche Eignungsdiagnostik in Deutschland immer noch extremen Nachholbedarf. Die einzige Form der professionellen psychologischen Eignungsdiagnostik, die dies berücksichtigt und zudem Menschenkenntnis ausklammert,ist die Diagnostik nach dem ib reality view & proof concept.

 

Täuschung bei Persönlichkeitsstörungen und psychischen Erkrankungen

Dass bestimmte Persönlichkeitsstörungen und psychische Erkrankungen nicht nur zu Veränderungen des persönlichen Erlebens, sondern auch zu Veränderungen im Verhalten führen, ist den meisten Menschen bekannt. Dennoch ist dies nicht so wie die meisten glauben. In Wahrheit fällt die Identifizierung von Störungen in den meisten Fällen viel schwerer als angenommen, insbesondere wenn Auslöser (z.B. bestimmte Schlüsselreize, Reibung etc.) für konkretes Verhalten fehlen.

 

Ein psychisch kranker Mensch mit einer schweren (und sogar für andere gefährlichen) Persönlichkeitsstörung oder Psychose (wir reden hier nicht über psychische Erkrankungen, unter denen die Erkrankten selbst bewusst leiden z.B. Depression, Burnout etc.) wird bewusst alles dafür tun, um nicht als krank zu gelten und auch nicht so zu wirken. Sollte dennoch (z.B. über andere Umstände) gegen die Erfahrungswerte eine allgemeine psychiatrische oder neurologische Untersuchung oder eine richterliche Begutachtung nach dem PsychKG erfolgen, wird der Erkrankte (der sich selbst im Übrigen nicht für krank hält, sondern eher die anderen), entsprechend seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten in den meisten Fällen alles dafür tun, um klar, frisch und gesund zu wirken.

 

Selbst ein erfahrener Facharzt für Psychiatrie oder ein Amtsrichter kann dem nichts als reine Menschenkenntnis über ein Gespräch und kurze Verhaltensbeobachtung entgegenbringen. Für langfristige regelmäßige Verhaltensbeobachtungen in unterschiedlichen Situationen und unter unterschiedlichen Umständen ist keine Zeit. Provokationen (wie im Provokativen Feedback Coaching) oder Reibung (wie u.a. in der Eignungsdiagnostik nach ib reality view & proof concept), welche ein Verhalten der Tarnung und Täuschung bzw. das entsprechende reale Verhalten (teils gefährlich realistisch) an den Tag bringen würde, erscheinen unüblich und werden noch seltener genutzt als teilaussagekräftige psychologische Tests im Rahmen der psychologischen Diagnostik. 

 

Nachlässigkeit

Dass Menschen immer noch wichtige - selbst sicherheitsrelevante - Entscheidungen auf Basis von Menschenkenntnis treffen ist schwer vorstellbar. Im Alltag ist dies jedoch immer noch üblich - und es gibt Menschen, die sich ohne das geringste Anzeichen von Schamgefühl öffentlich ihrer guten Menschenkenntnis brüsten und sich bei Fehlentscheidungen mit Sätzen wie "Man kann niemandem hinter den Kopf schauen" in Ergänzung mit "So etwas ist unvorstellbar. Das hätte niemand für möglich gehalten" entschuldigen.

Sogar im medizinischen Bereich zählt Menschenkenntnis in manchen Fachbereichen (z.B. Psychiatrie) noch immer zu den wesentlichen und teilweise sogar einzigen Diagnose-Systemen, obwohl es - neben herkömmlichen psychologischen Testverfahren mittlerweile modernere Konzepte und Techniken gibt, die Realität darzustellen.

 

Gegensteuern

In moderneren Ausbildungen lernen mittlerweile aber auch Ärzte, Menschenkenntnis zurückzustellen und - selbst wenn es Laien (Patienten) oder Kollegen merkwürdig vorkommt, die unterschiedlichsten technisch-physikalischen, chemischen und biologischen Diagnose-Systeme systematisch nach Schema F einzusetzen, um eben nicht in die falsche Richtung zu diagnostizieren und von falschen Wahrnehmungen auszugehen. Das mag zwar erst einmal dümmlich oder stumpfsinnig wirken, ist aber ebenso richtig und wichtig wie das entsprechende Teamplay bei kriminalistischen Ermittlungen der Kriminalpolizei, wo man eben keine Detektive mit Spürsinn und Menschenkenntnis sucht, sondern Teamplayer, die in der Lage sind, ihren Instinkt auszuschalten und moderne Untersuchungstechniken systematisch abzuarbeiten. Die psychologische Eignungsdiagnostik der Polizei hat diese charakterliche Kompetenz bereits seit langem in ihrem Testverfahren (z.B. beim Bundeskriminalamt) berücksichtigt.

 

Was erst einmal stumpfsinnig aussieht oder dümmlich wirkt, ist in Wahrheit ein intelligenter Leitsatz: "Ich bin dumm. Ich sehe nichts, fühle nichts und weiß nichts. Ich messe, messe noch einmal und messe nach." Dieser Leitsatz ist, sofern er denn auch befolgt wird, entscheidend, wenn wichtige Entscheidungen (z.B. hochpreisige Kaufentscheidungen, Personalentscheidungen in Bezug auf sensible Schlüsselpositionen) getroffen werden sollen.

Die Erkenntnis, dass bereits die Annahme von Menschenkenntnis ein Wahrnehmungsfehler ist, der schwerwiegende Schäden verursachen kann, ist zugleich der Grund, warum sich wahre Profis bei der Beurteilung von Sachverhalten und Entscheidungen eben nicht auf ihre Menschenkenntnis verlassen, sondern statt dessen Tests und Umfragen durchführen bzw. Diagnose-Systeme nutzen, welche den Faktor Menschenkenntnis nach Möglichkeit ausklammern. Ähnlich ist dies auch bei der Einbindung von Kindern (die noch keine ausgeprägte Menschenkenntnis besitzen) in moderne Werbe- und Marketinganalysen - allein der höchstmöglichen Objektivität wegen - aber auch um verborgene Potenziale zu finden.

 

Gleiches gilt bei psychologischen Einschätzungen nach wissenschaftlichen Prinzipien, bei denen strikt zwischen Verhaltensbeobachtung, Verhaltensbeschreibung und Ansätzen zur Verhaltenserklärung unterschieden wird. Auch in anderen professionellen Bereichen, in denen wichtige Einschätzungen und Entscheidungen getroffen werden, ist man bestrebt, Urteile zu vermeiden, die in der Regel auf Menschenkenntnis und impliziten Persönlichkeitstheorien basieren. Selbst tangierende Beeinflussungen durch Menschenkenntnis (Peripherie-Effekte) sollen hier möglichst vermieden werden.

 

Allgemeine Definition

Unter "Menschenkenntnis" versteht man die vermutete bzw. unterstellte Fähigkeit, den Charakter von Menschen aufgrund eines ersten kurzen Eindrucks richtig einzuschätzen, zu erkennen und zutreffend zu beurteilen. Ebenfalls wird unterstellt, dass auf Basis von Menschenkenntnis Rückschlüsse auf das Denken von Menschen gezogen werden können und sich darüber hinaus Verhaltensvorhersagen ableiten lassen.

 

Die weit verbreitete Annahme

Der Fähigkeit für Menschenkenntnis werden Faktoren wie Lebenserfahrung, Intuition, Intelligenz und Weisheit zugeschrieben und man geht davon aus, dass man sich Menschenkenntnis im Laufe des Lebens durch den häufigen Umgang mit Menschen sowie Erfahrung mit vielen unterschiedlichen Menschen erwirbt. Menschenkenntnis wird genutzt, um Menschen richtig zu beurteilen, Beziehungen einzugehen und Entscheidungen zu treffen (z.B. Einstellungsentscheidung, Entscheidung in Bezug auf Eingehen einer Partnerschaft etc.).

 

Menschen sind auch bestrebt, ihre Menschenkenntnis manipulativ zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen, um z.B. Menschen zu überzeugen, zu verführen oder ihnen etwas zu verkaufen. Tatsächlich zeigen Manipulationen auf Basis von Menschenkenntnis ihre Wirkung, aber ausgerechnet bevorzugt bei denjenigen, die sich möglichen Manipulatoren mit Hilfe ihrer Menschenkenntnis zu entziehen versuchen und Manipulatoren kritisch gegenüberstehen.

 

Unsere Vorstellungskraft täuscht uns

Menschen sind allein durch ihre kritische Haltung und Nutzung ihrer Menschenkenntnis manipulierbar. Nicht nur Trickbetrüger machen sich dies zu nutze, sondern auch Menschen, die aufgrund ihrer hohen sozialen Intelligenz genau wissen, wie andere denken und welche Menschenbildannahmen sogenannte "Menschenkenner" verfolgen. Sie spekulieren eben auf genau diese Menschenkenntnis bzw. typische Menschenbildannahmen anderer Menschen und nutzen diese, in dem sie durch ihr Verhalten (Sprache, Sprechen, Körpersprache, Kleidung, Aussagen, Peripherie etc.) bestimmte Vorstellungen erzeugen, die andere anhand impliziter Persönlichkeitstheorien dann mit ihrer "Menschenkenntnis" übersetzen. Dadurch können Tatsachen völlig verdreht werden, schließlich traut ein "Menschenkenner" dem, was er "kennt".

 

Frank W. Abagnale

Ein anschauliches Beispiel dafür bietet das Leben des Frank W. Abagnale, das (auf der Filmbiografie von Steven Spielberg und einem Roman von Stan Redding basierend) in der US-amerikanischen Gaunerkomödie "Catch Me If You Can" sehr zutreffend darstellt wird. Abagnale täuscht Menschen, die andere nach den Regeln der Menschenkenntnis beurteilen, durch eben genau dieses Wissen um naive Persönlichkeitstheorien (Menschenkenntnis). Was viele aufgrund ihrer Menschenkenntnis und den daraus resultierenden Fehlannahmen nicht ahnen: Der echte Frank W. Abagnale spielt im besagten Film in einer kurzen Szene selbst mit. Er verkörpert den französischen Polizisten, der den flüchtigen Frank Abagnale (Leonardo DiCaprio) schließlich verhaftet.

 

Im Alltag

Tatsächlich gehört das, was im Film vielleicht irrational wirkt, zu unserem täglichen Leben, zum Privat-, Berufs- und Geschäftsalltag. Die Menschenkenntnis von Menschen macht es erst möglich, dass sozial kompetente Bewerber, geschickte Verkäufer, raffinierte Vertriebler und Trickbetrüger erfolgreich sind, selbst dann, wenn sie nur "heiße Luft" bzw. "Schall und Rauch" verkaufen und danach nicht mehr gesehen werden. Auf der anderen Seite werden wertvolle Chancen vertan, indem z.B. Menschen abgelehnt werden, die sich gegen die Regeln unserer Menschenkenntnis verhalten. Was in Wirklichkeit ein Glückstreffer gewesen wäre, lehnen wir aufgrund unserer Menschenkenntnis ab, während wir bei Menschen, welche die Raster unserer Regelwerke der Menschenkenntnis erfüllen (wenn auch nur zum Schein) positive Entscheidungen treffen. Insofern wirkt hier zugleich das "Gesetz der Anziehung".

 

Subjektive Theorien

Im Zusammenhang mit dem Thema Menschenkenntnis existieren viele unterschiedliche subjektive Persönlichkeitstheorien, Persönlichkeitstests und Persönlichkeits-Typisierungen bzw. Klassifizierungen und ebenso die unterschiedlichsten Versuche und Ansätze, Menschen in Persönlichkeits-Typen zu kategorisieren und zu klassifizieren, wobei dem Verhalten von Menschen rein spekulativ auch bestimmte Ursachen (Motive) zugeschrieben werden.

 

Die subjektiven Theorien, die der sogenannten "Menschenkenntnis" dienen, machen es sich zur Aufgabe, das Verhalten der Menschen im Alltag verstehbar, voraussagbar und auch kontrollierbar zu machen. Sie dienen jedoch in erster Linie der Orientierung des Einzelnen in der persönlichen Lebenswelt. In wichtigen Lebensbereichen können subjektive Persönlichkeitstheorien ebenso schaden wie das Klammern an die eigene Menschenkenntnis, die in Wahrheit leider sehr trügerisch ist.

 

Professionelle Sichtweise

Viele Menschen rühmen sich spätestens nach mehreren Jahrzehnten Lebens- und Berufserfahrung der Fähigkeit, grundsätzlich Menschenkenntnis oder sogar sehr gute Menschenkenntnis zu besitzen. In Wahrheit ist jedoch insbesondere derjenige, der seiner eigenen Meinung nach meint, über beste Menschenkenntnis zu verfügen und im festen Glauben daran ebenso überzeugt ist, auf dieser Basis richtige Urteile und Entscheidungen zu treffen, am meisten in seinem Urteils- und Entscheidungsvermögen getrübt und sogar bereits manipuliert.

 

Das ist auch der Grund, warum man im professionellen Bereich immer mehr bestrebt ist, Entscheidungen, die auf subjektiver Menschenkenntnis beruhen, tunlichst zu vermeiden, stattdessen systematisch vorzugehen und sogar unerfahrene Kinder ohne jegliche Menschenkenntnis in wichtige Entscheidungen mit einzubeziehen. 

Warum ist das so?

 

Was ist "Menschenkenntnis" aus psychologischer Sicht?

"Menschenkenntnis" ist aus wissenschaftlich-psychologischer Sicht ein "Vorurteil" und damit eine subjektive und unprofessionelle "Annahme". Wenn wir behaupten, "Menschenkenntnis" zu besitzen, ist das objektiv gesehen, leider so, als würden wir behaupten, Gedanken lesen zu können. Zugleich würden wir vermessen davon ausgehen, dass sich Menschen nicht ändern können.

 

Worauf basieren Einschätzungen, Beurteilungen und Entscheidungen?

Aus der wissenschaftlichen Psychologie und den Neurowissenschaften wissen wir: Die meisten Entscheidungen sind unbewusste Gefühlsentscheidungen. So auch Entscheidungen im Hinblick auf Menschen, deren Einschätzung stets auf eigenen Erinnerungen bzw. vorausgegangenen Erfahrungen und daraus resultierenden Menschenbildannahmen basiert. Hinzu kommt, dass unsere Wahrnehmung und die damit verbundenen Denk- und Entscheidungsprozesse unzähligen Beobachtungs-, Beurteilungs- und Wahrnehmungsfehlern unterliegen.

 

Kurz gesagt: Sowohl die Art und Weise wie wir Menschen sehen, beobachten und beurteilen, als auch unsere Vorstellung von Menschen, die auf unserer Vorstellungskraft (=Phantasie) beruht, täuscht uns - und zwar ohne, dass uns dies bewusst ist. Das bedeutet: Nicht immer werden wir getäuscht - wir täuschen uns selbst. Ursächlich ist u.a. unsere Vorstellungskraft - aber auch unsere Erwartungen.

 

Signale der Persönlichkeit

Tatsächlich senden Menschen unbewusst Signale aus, die wichtige interessante Hinweise auf ihre Persönlichkeit und ihren Charakter geben. Sofern man diese Signale der Persönlichkeit erkennt, richtig zuordnet und richtig deutet, kann man ein durchaus zutreffendes Bild von einer anderen Person erhalten - und es sind unzählige Übereinstimmungen möglich. Dieses Bild trifft jedoch nicht zwingend zu.

 

Hinzu kommt, dass Menschen aufgrund ihrer Intelligenz oder einer erfolgten professionellen Beratung durchaus in der Lage sind, ganz bewusst und gezielt genau jene Signale zu senden, die von den sogenannten Menschenkennern genau so interpretiert werden, wie die Beobachteten es selbst wollen. Es ist davon auszugehen, dass Menschen insbesondere in wichtigen Situationen bestrebt sind, sich bewusst zu verhalten. Sie sind bestrebt, sämtliche Signale, die sie senden, in gewisser Weise zu kontrollieren und/oder gezielt einzusetzen z.B. um ein bestimmtes Beurteilungs- oder Entscheidungsziel zu erreichen.

 

Ob ihnen diese Kontrolle nun vollends gelingt, ist etwas anderes. Fakt ist: Sie kontrollieren sich, dosieren ihr verhalten, zeigen sich von ihrer besten Seite. Dies stellt insbesondere im Bereich der Personalauswahl ein schwerwiegendes Problem dar. Eine zutreffende Messung unbewusster Signale und Verhaltensweisen ist hier nur über das ib reality view & proof concept möglich.

   

Menschenkenntnis ist zumeist ungerecht

Bei jeder Wahrnehmung einer Person (bzw. von sogenannten Reizen) wird unsere "Festplatte" im Gehirn nach Ähnlichkeiten dieser Person mit anderen Menschen abgeglichen. Bestimmte Merkmale einer Person werden identifiziert und einfach übernommen. Menschen, die einem bereits sympathisch oder unsympathisch waren oder mit denen man bereits positive oder negative Erfahrungen gesammelt hat, werden dann folglich ebenso eingeschätzt. So entsteht das Gefühl der Sympathie oder Antipathie und viele logische Fehler.

 

Genau hier liegt das Problem: Unsere früheren Einschätzungen und Erfahrungen sind subjektiv, einseitig und nicht selten falsch. Wenn wir alte Muster auf Basis eigener und/oder gesellschaftlicher Raster übernehmen, hindern wir uns selbst daran, ausgetretene Denk- und Urteilspfade zu verlassen und Neues zu erkennen, das uns ggf. sogar zu unserem Vorteil gereichen kann und uns weiter bringt.

 

Allein der erste Eindruck (Primär-Effekt oder "primacy effekt"), den man gewöhnlich für entscheidend hält und über den in der Tat nachweislich viele nie hinauskommen (perpetuierende Wahrnehmung), ist ebenso trügerisch wie unsere subjektiven Erfahrungen, unsere Erinnerungen und die unzähligen anderen Fehler, die einem bei der Einschätzung und Beurteilung von Menschen automatisch unterlaufen.

 

Schlüsselreize

Die Einschätzung von Menschen fokussiert sich zumeist auf sogenannten Schlüsselreizen. Kurz gesagt, sind das Reize, die wir selektiv wahrnehmen und für die wir besonders empfänglich sind. Ebenso ist es bei der sprichwörtlichen "Chemie", die angeblich stimmen muss, und die voraussetzt, dass man mit dem einen "kann", mit dem anderen aber nicht. Sie basiert zumeist auf wenigen, oft zufälligen Schlüsselreizen. Trotzdem kennen wir den Spruch...

 

Ich kann Dich riechen

Die sogenannte Chemie, zu der im wahrsten Sinne auch solche Substanzen gehören, die unser Gehirn und unseren Körper steuern, gibt es tatsächlich und vom Grundprinzip ist diese "Chemie" eigentlich sehr praktisch: Sie sollte uns bereits in der Steinzeit helfen, schnelle unkomplizierte Entscheidungen zu treffen und die biogenetisch passende Partnerwahl und Fortpflanzung zu steuern, damit wir gesunde und starke Nachfahren zeugen. Aber nicht immer geht es direkt um Fortpflanzung. Zudem ist unser Dasein heute wesentlich komplexer als in der Steinzeit...

 

Die Steinzeit ist vorbei!

Allein die Erfindung der "Pille" und anderer Substanzen, ja selbst ein Parfum sorgen dafür, dass "die Chemie" nicht mehr stimmt und unser Nervensystem grundlegend getäuscht wird. Hinzu kommt: Ein guter Schauspieler oder ein Mensch mit hoher Sozialer Intelligenz und ausgeprägten sozialen Kompetenzen beeinflusst durch sein Verhalten unsere Urteilsfähigkeit ebenso gravierend wie ein bestimmtes Parfum und bewiesener weise sogar die bloße Nennung einer Zahl (z.B. Ankereffekt).

 

Ergebnis/Fazit:

Menschenkenntnis ist ein trügerisches Vorurteil, von dem wir möglichst Abstand nehmen sollten. Unsere eigenen Ansichten von Menschen sollten wir ebenso hinterfragen wie unser Urteilsvermögen. Der Wahrnehmungsfehler der Menschenkenntnis steht in einem direkten und/oder indirekten Zusammenhang mit vielen weiteren Beobachtungs-, Beurteilungs- und Wahrnehmungsfehlern. Einer davon ist z.B. der Überlegenheitsfehler.