Ingratiation ist eine im Bereich der Sozialpsychologie erforschte psychologische Technik zur subtilen Beeinflussung anderer Menschen unter Nutzung der Erkenntnisse der Sozialpsychologie.
Umgangssprachlich kann man insofern auch von "Sozialtuning" sprechen.
Einfach ausgedrückt, erfolgt die Beeinflussung dadurch, dass man über soziale Anpassung für andere attraktiver und sympathischer wird.
Ingratiation steht in Verbindung mit dem YAVIS-Prinzip und dem fundamentalen Attributionsfehler sowie dem Sympathie-Ähnlichkeits- und Selbsterkennungsfehler.
Geprägt wurde der Begriff durch den Sozialpsychologen Edward E. Jones, der Ingratiation als strategisches Verhalten definierte, welches dazu bestimmt ist, eine andere Person durch die Attraktivität der persönlichen Qualitäten subtil zu beeinflussen. Dahinter steckt die grundlegende Erkenntnis, dass es Menschen schwer fällt, jemanden nicht zu mögen, der positiv und wertschätzend über sie denkt. Die Beeinflussung erfolgt durch verschiedene Taktiken z.B.:
Taktik 1
Einsatz gezielte Schmeicheleien und Komplimente, um die Wertschätzung einer anderen Person zu verbessern und Selbstzweifeln der Zielperson gegenzusteuern / Aussprechen von Lob, was dazu dient,
Zustimmung und Respekt
von einer Zielperson zu kultivieren, ohne dabei eine explizite Belohnung zu beabsichtigen
Taktik 2
Konformität in Meinung, Urteil und Verhalten einschließlich Änderung des Ausdrucks der eigenen Meinung . Meinungskonformität tritt auf, wenn der Ingratiator die Einstellungen und
Überzeugungen der Zielperson
annimmt und validiert.
Taktik 3
Situationsspezifische angepasstes Verhalten mit Verwendung persönlicher Informationen über die Zielperson, d
ie man zuvor ermittelt bzw. herausgefunden hat, um nachfolgend Zustimmung zu erhalten
Taktik 4
Neben adäquater Identitätsdarstellung: Positive Selbstdarstellung / Präsentation und zielführende Eigenwerbung
durch explizite Herausstellung, Betonung und Übertreibung jener eigenen Merkmale einer Person, die zur Zielperson
bzw. Zielgruppe passen, während negative Eigenschaften hingegen weggelassen werden.
Taktik 5
Bescheidenheit und Selbstironie als Alternative oder Ergänzung zu Taktik 4
Taktik 6
Humor / Ereignisse, die der Ingratiator mit der Zielperson teilt, sollten amüsant sein
Taktik 7
Indirekte Überzeugung der Zielperson(en) von dem Gefühl der Abhängigkeit.
Taktik 8
Indirekte Überzeugung der Zielperson(en), dass der Ingratiator die Zielperson(en) gewinnbringend ergänzt.
Taktik 9
Name-Dropping : Verweis auf ein oder mehrere Personen in einem Gespräch mit der Absicht, diese als
versteckte Referenz (en) zu verwenden, um die wahrgenommene Attraktivität oder Glaubwürdigkeit zu erhöhen.
Taktik 10
Favor Doing / der Zielperson bzw. den Zielpersonen einen Gefallen tun, der hilfreich und rücksichtsvoll erscheint
und damit ein Gefühl der Reziprozität (Gegenseitigkeit / Wechselsdeitigkeit) zwischen dem Ingratiator
und der Zielperson hervorruft
Ingratiation steht in Verbindung mit dem Impression-Management, ist aber davon abzugrenzen. Insbesondere im deutschen Kulturkreis werden Menschen leider oft so erzogen bzw. sozialisiert, dass sie Ingratiation mit "Anbiederung" gleichsetzen und in einem negativen Kontext sehen. Für sie ist Edward E. Jones folglich der Vater von Anbiederung mit Vorliebe für Beobachtung und Schauspiel. Doch Ingratiation muss kein Schauspiel sein: Menschen mit einer hohen Empathie und einer hohen Sozialkompetenz verhalten sich - sofern sie nicht ungünstig erzogen bzw. sozialisiert wurden, fast automatisch so. Ingratiation steht folglich in Verbindung mit sozialen Kompetenzen, ohne diese Kompetenzen natürlich mit Schauspiel.
Jones erste umfassende Studien über Ingratiation wurden in seinem 1964 erschienenen Buch "Ingratiation: A Social Psychological Analysis" veröffentlicht . Den Grund für seine Forschung sah Jones
darin, dass es sich hierbei um ein wichtiges zu untersuchendes Phänomen handele, welches einige der zentralen Geheimnisse der sozialen Interaktion aufkläre und ebenso die Grundlage für das
Verständnis anderer häufiger sozialer Phänomene wie Gruppenzusammenhalt darstellt.
Um die Offensichtlichkeit der Schmeichelei zu verhindern, kann der Ingratiator zunächst negativ über jene Qualitäten sprechen, welche die Zielperson als Schwächen kennt und sie dann zu einer
eigentlich schwach ausgeprägten Qualität beglückwünschen, bei der sich die Zielperson unsicher ist. Konformität in Meinung, Urteil und Verhalten basiert auf dem Grundsatz, dass Menschen jene
Menschen mehr mögen, deren Werte und Überzeugungen ihren eigenen ähnlich sind. Dieses Gefühl der Konformität reicht von der einfachen Übereinstimmung mit den geäußerten Meinungen bis hin zu den
komplexesten Formen der Identifizierung und Nachahmung von Verhalten z.B. durch die sogenannte Spiegeltechnik.
Ähnlich wie bei anderen Werkzeugen des Sozialtunings gilt Konformität bei einer Meinungsänderung als am effektivsten. Wenn der Ingratiator von einer abweichenden Meinung zu einer
übereinstimmenden Meinung wechselt, werden die positiven Gefühle der Zielperson(en) gestärkt. Am wertvollsten ist dies für die Zielperson, wenn sie glauben will, dass etwas wahr ist, aber
nicht sicher ist, dass es stimmt. Jones empfiehlt daher, zunächst in unbedeutenden Fragen zu widersprechen und sich auf Fragen zu einigen, die die Zielperson bestätigen muss.
Bei der Selbstdarstellung und Eigenwerbung geht es um die explizite Darstellung oder Beschreibung der eigenen Attribute, die den Attributen der Zielperson ähneln oder diese symbiotisch ergänzen.
Dadurch wird die um die Attraktivitätsbewertung erhöht. Der Ingratiator ist im Prinzip jemand, der sich selbst nach den Vorstellungen der Zielperson modelliert. Die positive
Selbstdarstellung ist am effektivsten, wenn Stärken übertrieben und Schwächen minimiert werden. Diese Taktik scheint jedoch vom Selbstbild des Ingratiators abhängig zu sein. Daher werden zum
Beispiel jene, die sich gegenüber eine hohe Wertschätzung haben, mit mehr Gunst betrachtet, wenn sie bescheiden sind, und diejenigen, die dies nicht tun, werden als günstiger angesehen, wenn sie
ihre Stärken übertreiben. Man kann auch eigene Schwächen implizit darstellen, um die Zielperson zu beeindrucken. Durch das Aufdecken von Schwächen impliziert man ein Gefühl von Respekt und
Vertrauen gegenüber der Zielperson.
Hinzu kommt die Erkenntnis, dass Personen von denen angezogen werden, die nette Dinge für sie tun. Durch Gefälligkeiten oder Geschenken fördert der Ingratiator die Anziehungskraft und stärkt die
Beziehung zur Zielperson allein schon dadurch, dass er annehmlicher und vorteilhafter erscheint. Bescheidenheit ist ebenfalls eine effektive Ingratiations-Taktik, da sie die Sympathie fördert.
Sie kann aber auch das Gegenteil von Eigenwerbung sein. Anstatt sich der Ingratiator in den Augen der Zielperson attraktiver erscheinen lässt, besteht das Ziel der Selbstentwertung darin, die
wahrgenommene Attraktivität des Ingratiators zu verringern. Der Ingratiator hofft dabei, von der Zielperson Mitleid zu erhalten, und kann so über dieses Mitleid sehr subtil Überzeugungsarbeit
leisten.
Auch die absichtliche Nutzung von Humor erzeugt bei der Zielperson einen positiven Effekt. Er lässt sich am besten mit einbeziehen, wenn der Eingeweihte einen höheren Status als die Zielperson hat, z. B. vom Vorgesetzten zum Mitarbeiter. Solange die Zielperson den Witz des Individuums als angemessen, witzig und ohne alternative Auswirkungen wahrnimmt, wird der Witz positiv und nicht negativ bewertet. Wenn Humor von einer Person mit einem niedrigeren Status in der Umgebung verwendet wird, kann dies hingegen riskant, unangemessen und ablenkend sein und die Sympathie beeinträchtigen, anstatt Sympathie zu fördern.
Instrumentelle Abhängigkeit ist ein Vorgang, bei dem der Zielperson der Eindruck vermittelt wird, dass der Ingratiator vollständig von dieser Person abhängig ist. Ähnlich wie bei der Bescheidenheit wirkt die instrumentelle Abhängigkeit, indem sie ein Verständnis für den Ingratiators erzeugt. Bei der Ingratiation werden während der Kommunikation mit dcer Zielperson einflussreiche Personen als Referenz verwendet. Typischerweise wird das Nennen solcher Namen strategisch so vorgenommen, dass die fraglichen Referenzen von der Zielperson erkannt und respektiert werden. Infolgedessen ist es wahrscheinlich, dass die Zielperson den Ingratiator als attraktiver empfindet.
Ingratiation funktioniert in verschiedenen Situationen und Einstellungen gut. Sie basiert zudem auf den Regeln zielführender Statuskommunikation. Zugleich gilt Ingratiation als Methode, um arbeitsbedingten Stress zu bewältigen. Ein vermindertes Selbstwertgefühl in Verbindung mit Stress kann dazu führen, dass eine Person Bewältigungsmechanismen anwendet. Selbstbestätigung und Imagepflege sind wahrscheinliche Reaktionen, wenn eine Gefahr für das Selbstbild besteht. Da das Selbstwertgefühl eine Ressource ist, um mit Stress umzugehen, wird es in diesem Bewältigungsprozess erschöpft, und das Individuum wird mit größerer Wahrscheinlichkeit Unzufriedenheit zum Schutz, zur Reparatur oder sogar zur Steigerung des Selbstbildes einsetzen.