Wissen: Wahrnehmungsstörungen

Wahrnehmungsstörungen und Trugwahrnehmungen

 

Einleitung / Abgrenzung

 

Abgrenzung zu Wahrnehmungsfehlern

Im Gegensatz zu Wahrnehmungsfehlern, bei denen wir uns auf der Grundlage eingehender Informationen (Reize) durch unsere Denkprozesse und unsere Vorstellungskraft bzw. durch Kombination vergangener Vorstellungen und Erfahrungen ein subjektives Bild von einer Person, einer Sache oder einem Zustand erhalten, basieren Wahrnehmungsstörungen auf bestimmten Defiziten, die physischen oder psychischen Ursprungs sind bzw. auf psychische oder organische Störungen zurückzuführen sind. Wahrnehmungsstörungen gehen häufig mit sogenannten Trugwahrnehmungen einher.

 

Exkurs Trugwahrnehmungen 

 

Was sind Trugwahrnehmungen?

 Trugwahrnehmungen sind trügerische Wahrnehmungen. Sie gehören aber nicht zu den Wahrnehmungsfehlern, sondern zu den Wahrnehmungsstörungen, die in der Regel auf psychische oder organische Störungen zurückzuführen sind. Dazu zählen z.B. Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Es gibt Menschen, die sagen, dass sie hellsehen können, andere werden von Erscheinungen und Visionen heimgesucht. Sie hören Stimmen aus ihrem Kopf, ihrem Bauch oder von sonst wo her, sehen Geister, fremde oder vertraute Gestalten (z.B. des christlichen Glaubens), können sich ggf. mit ihnen unterhalten oder sagen, dass sie in die Zukunft blicken können.

 

Eines von vielen berühmten Beispielen sind die Visionen von Jeanne d’Arc (* 6.01.1412 / in Domrémy, Lothringen; † 30. Mai 1431 in Rouen), im deutschen Sprachraum auch Johanna von Orléans bzw. die Jungfrau von Orléans genannt, die von der römisch-katholischen Kirche als Märtyrin und Heilige verehrt wird: Laut Gerichtsprotokoll hatte Jeanne bereits im Alter von 13 Jahren ihre ersten Visionen, in denen sie die Stimme der heiligen Katharina hörte. Später später kamen die des Erzengels Michael und der heiligen Margareta hinzu, von denen sie angeblich den Auftrag erhielt, Frankreich von den Engländern zu befreien und den Dauphin zum Thron zu führen. Daraufhin verließ sie ihr Elternhaus und verhalf den französischen Truppen des Dauphins zu einem Sieg über die Engländer und Burgunder. Nachfolgend geleitete sie Karl VII. von Frankreich zu seiner Krönung nach Reims. Nach ihrer Gefangennahme am 23.05.1430 wurde sie am 30.05.1431 im Alter von 19 Jahren auf dem Marktplatz von Rouen auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

 

Manchmal sind es aber auch angebliche Erinnerungen an vermeintlich frühere Leben oder es tauchen lebhafte, bislang verschüttete Details aus der Vergangenheit auf. Menschen können sich plötzlich erinnern, dass sie irgendwann schon einmal an einem bestimmten Ort waren oder dort gelebt haben. Dazu haben sie gestochen scharfe Bilder im Kopf und können teilweise kleinste Details beschreiben. Selbst Gerüche scheinen dann real "in der Nase" zu sein.

 

Die Erinnerungen sind derart lebendig, dass sie mit starken Gefühlswallungen einhergehen, die messbar sind und darauf hindeuten, dass sie für die Betroffenen scheinbar real sind. Ebenso unumstößlich real scheinen manchmal auch die Erinnerungen. Die Betroffenen sind felsenfest davon überzeugt, an einem bestimmten Ort bereits einmal gewesen zu sein, eine Melodie (aus einem vergangenen Jahrhundert) bereits schon einmal gehört zu haben und sogar dazu getanzt zu haben.

 

Manche Menschen setzen sich hin und spielen plötzlich ein Instrument, das sie nie gelernt haben. Sie komponieren und dichten. Es scheint, als gäbe es Informationen bzw. Erinnerungen (bzw. Erfahrungen) in ihrem Kopf, die intuitiv aus dem Unterbewusstsein hervorkommen. Zumeist gibt es aber keinen Beleg für echte Erfahrungen, die auf reales Erleben und Lernen im aktuellen Leben zurückführbar sind. Die einen gehen davon aus, dass es sich um zusammengewürfelte und neu kombinierte Fragmente gesammelter Detail-Informationen (Detail-Erfahrungen) aus dem Unterbewusstsein handelt, die nun mit Hilfe der Vorstellungskraft (= Phantasie) neu kombiniert und geformt werden), andere hingegen ordnen derartige Wahrnehmungen der Psychiatrie bzw. einer psychischen Störung zu.

 

Seit Jahrzehnten versuchen Wissenschaftler, die psychologischen und neurobiologischen Ursachen derartiger Trugwahrnehmungen zu ergründen. Bislang konnten keine wissenschaftlichen Erklärungen gefunden werden, die über wiederholbare Experimente überprüfbar wären. Daher zählt man Trugwahrnehmungen eigentlich nicht zu den Wahrnehmungsfehlern, sondern eher zu den Wahrnehmungsstörungen, die mit Realitätsverlust einhergehen, aktuell zumeist als krankhafte Störung gelten und eher dem Fachgebiet der Psychiatrie zugeordnet werden.

 

Die Parapsychologie beschäftigt sich ebenso damit. Einige Trugwahrnehmungen stehen auch in Verbindung mit dem Phänomen der sogenannten Übersinnlichen bzw. außersinnlichen Wahrnehmung.

 

 

Hauptteil: Wahrnehmungsstörungen 

 

Beispiele für Wahrnehmungsstörungen

 

01  Wahrnehmungsstörungen aufgrund Erkrankung der Psyche

Bereits in Bezug auf reguläre Wahrnehmungs-, Denk- und Urteilsprozesse spielt unsere psychische Konstitution eine wichtige Rolle. Je nachdem, in welcher Gemütsverfassung wir uns gerade befinden, empfinden wir Menschen, Zustände und alle Dinge um uns herum völlig anders, als sie eigentlich sind. Besonders stark verändert sich unsere Wahrnehmung bei bestimmten Störungen der Psyche.

 

Bereits allein die damit einhergehenden Symptome (z.B. Angst) verzerren die Wahrnehmung. Dann nehmen wir die Menschen und Dinge um uns herum anders wahr als sie sind und interpretieren selbst in sachliche Aussagen und/oder nichts sagende Bilder etwas hinein, das unserer psychischen Verfassung entspricht. Dennoch: Wahrnehmungsfehlern liegt stets ein Reiz bzw. eine Information zugrunde. Bei einigen psychischen Störungen fehlt ein realer Reiz. Sie wirken auch ohne eine zugrunde liegende reale Information.

 

02  Halluzination

Von einer Halluzination spricht man, wenn ein Reiz wahrgenommen wird, obwohl dieser in der Realität gar nicht existiert. Ein realer Reiz liegt nicht zugrunde. Es kommt zu Trugwahrnehmungen.

 

03  Wahnvorstellung

Von einer Wahnvorstellung spricht man, wenn das Bewusstsein des Wahrnehmenden bei intaktem Wahrnehmungsvermögen die Wahrnehmung derartig verfälscht, dass die Realität, so wie sie ist, verkannt wird und trotz Gegenbeweise keine Korrektur möglich ist. Wahnvorstellungen gehen zumeist mit einem Wahn bzw. einer psychiatrisch relevanten Wahnstörung bzw. einer wahnhaften Störung einher.  

 

04  Wahrnehmungsstörungen aufgrund organischer Erkrankung

Sind Sinnesorgane und/oder Nervensystem beeinträchtigt, kommt es zu Störungen der Wahrnehmung z.B. beim...

 

04.1  Blindsehen

Es gibt blinde Menschen, die - obgleich sie nachweislich nichts sehen können - trotzdem fähig sind, visuelle Informationen / Reize aus ihrer Umwelt zu erkennen und zu nutzen. Blindsehende reagieren auf die Mimik anderer, ohne jedoch ein Gesicht zu erkennen. Ebenso können sie Muster erkennen, wissen jedoch nicht, woher die Informationen kommen, weil das Bewusstsein dafür fehlt. Das liegt daran, dass bei blindsehenden Menschen eintreffende Signale eine Abkürzung in die höheren Areale der Sehrinde nehmen. Üblicherweise leitet die primäre Sehrinde, die dazu dient, aus eintreffenden visuellen Signalen genau jenes Bild zu erzeugen, das wir als bewusstes Sehen erleben, die entsprechenden Informationen an die höheren Areale des visuellen Kortex weiter, wo sie interpretiert werden. Ähnlich ist es bei der...

 

04.2  Akinetopsie

Hierbei handelt es sich um einen Defekt der Sehrinde. Menschen mit Akinetopsie sind unfähig, Bewegungen wahrzunehmen. An Stelle real erfolgter Bewegungen sehen sie einzelne Bilder bzw. Standbilder nacheinander ablaufen. Sie sehen quasi eingefrorene Momentaufnahmen, welche die reale Bewegungsabläufe nicht darstellen können.

 

04.3  Visueller Negelect

Bei ihrer Wahrnehmung vernachlässigen die betroffenen Menschen jeweils eine Hälfte z.B. eine Hälfte eines Raums, die Hälfte von Objekten oder eine Hälfte ihres Körpers. Ursächlich ist ein Defekt im Parietallappen. Der lenkt unsere Aufmerksamkeit. Obwohl eintreffend Sinnesreize aus unterschiedlichen Richtungen grundsätzlich normal verarbeitet werden, richten die Betroffenen ihre Aufmerksamkeit unbewusst nur noch in eine Richtung. Entsprechend bemerken sie nicht, wenn sich jemand oder etwas von der Seite, die sie vernachlässigen, nähert. Das führt zu entsprechendem Verhalten: So essen die Betroffenen z.B. nur noch eine Hälfte dessen, was sich auf ihrem Teller befindet oder waschen sich nur noch auf einer Seite. 

 

05  Capgras-Syndrom

Das Capgras-Syndrom macht Menschen glauben, dass ihnen nahe stehende Personen durch Doppelgänger ausgetauscht worden. Im Gegensatz zu Halluzinationen oder Wahnvorstellungen, bei denen Menschen etwas wahrnehmen, was in Wirklichkeit nicht real existiert ist, führt das Capgras-Syndrom dazu, dass eine reale Wahrnehmung einfach falsch erlebt und beurteilt wird. Detail-Infos

 

06  Wahrnehmungsstörungen aufgrund gehirnchemischer Veränderungen

Für Veränderungen und ggf. Störungen der Wahrnehmung, des Denkens und der Psyche ist auch unsere körpereigene Biochemie bzw. unsere Gehirn-Chemie verantwortlich. Sie entscheidet mit darüber was und wie wir fühlen, wie wir uns und andere wahrnehmen und einschätzen - und auch darüber, wie wir urteilen und welche Entscheidungen wir treffen.

 

Wenn sich die Zusammensetzung unsere Gehirn-Chemie verändert, verändert sich damit auch der Mensch und das, was er wahrnimmt, denkt und fühlt. Nicht selten kann das völlig gegensätzlich zu dem sein, was man üblicherweise wahrnimmt, denkt und fühlt bzw. was man unter ausgewogenen Verhältnissen wahrnehmen, denken und fühlen würde.

 

Bereits Stress oder eine Erkrankung der Schilddrüse kann zu Veränderungen führen und auch dazu, ob wir Dinge positiv oder negativ sehen, ob wir Glück oder Unglück wahrnehmen, ob wir uns glücklich fühlen oder unglücklich sind. Abzugrenzen sind psychotische Wahrnehmungsstörungen, die auf schwerwiegenden bzw. krankhaften Veränderungen der Gehirnchemie bzw. des Hirnstoffwechsel basieren jedoch von solchen, welche reguläre Veränderungen betreffen, aber dennoch die Wahrnehmung beeinflussen und/oder beeinträchtigen.

 

07a Stimmenhören im Allgemeinen

Angeblich hören 3 - 5 Prozent aller Menschen Stimmen oder haben irgendwann einmal in ihrem Leben Stimmen gehört. Sehr häufig sind sie in psychiatrischer Behandlung. In der Psychiatrie gilt Stimmenhören als Zeichen für eine schwere psychische Störung. Nicht selten lautet die Diagnose Schizophrenie, obgleich man hier differenzieren sollte, insbesondere bei Kindern, die Stimmen hören. Auch eine Spaltung aufgrund elterlichen Einflüssen z.B. durch bestimmende-kontrollierende Persönlichkeiten kann für das Stimmenhören verantwortlich sein. Dennoch erfolgt die Behandlung erfolgt in den meisten Fällen ausschließlich mit Psychopharmaka. 

 

Viele vom Stimmenhören betroffene Menschen fühlen sich ausgegrenzt und nicht ernst genommen. Sie wollen mit "ihren Stimmen" leben, haben daher sogar eine "Stimmenhörer-Bewegung" gegründet und möchten die Psychiatrie zum Umdenken bewegen (z.B. Netzwerk Stimmenhören e.V.).

 

Die meisten Stimmenhörer sind sehr erschrocken und können sich nicht erklären, was da gerade mit ihnen passiert, wenn sie zum ersten mal eine solche Stimme hören. Mit der Zeit gewöhnen sich viele daran. Viele Stimmenhörer "arrangieren" sich oft sogar mit ihren Stimmen, zumindest solange diese für die Betroffenen erträglich sind. Die Betroffenen besprechen sich sogar mit ihren Stimmen und verabreden sich mit ihnen, zu bestimmten Zeiten ruhig zu sein.

 

Manchmal werden die Stimmen jedoch für die Betroffenen unerträglich. Zudem gehen sie mit körperlichen Reaktionen einher. Die Stimmen  wirken dann z.B. "wie Kobolde", welche die Betroffenen nachäffen, andere Menschen  (z.B. anwesende Gesprächspartner) ins Lächerliche ziehen oder die eigenen Aussagen der Betroffenen kommentieren. Manche sprechen "wie mit einer Automatenstimme". Es kommen sogar weitere Stimmen hinzu. Sie halten die Betroffenen vom Schlafen ab, verbieten etwas und sind manchmal angeblich recht laut.

 

Manche der Betroffenen haben das Gefühl, dass es besonders "böse", weniger böse und neutrale Stimmen gibt. Manche Betroffene erzählen von schlimmen Beschimpfungen und Befehlen, die von den besonders bösen Stimmen ausgeht. Diese Stimmen gehen sogar so weit, dass sie den Wert des eigenen Lebens negieren und zum Suizid aufrufen. Manche Patienten führen einen regelrechten Dauerkampf mit ihren Stimmen.

 

Ein einigermaßen anschauliches Beispiel dafür bietet (im entfernten Sinne) der Roman "Psycho" von Robert Bloch. Er wurde 1959 veröffentlicht und mehrmals verfilmt. Hier leidet der Stimmenhörer und Stimmensprecher Norman Bates unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung und hatte 3 Persönlichkeiten: Sich selbst, den jungen Norman und seine Mutter.

 

Weil seine Seine Mutter und sein Onkel Joe heiraten, wollten, vergiftete Norman beide mit Rattengift, schrieb einen Abschiedsbrief im Namen seiner Mutter an sich selbst und wurde ins Krankenhaus gebracht. Später bereute er es, grub die Leiche seiner Mutter aus, stopfte sie aus und trug sie mit sich herum wie eine Puppe.

 

Aus der Persönlichkeit seiner Mutter heraus, die von ihm Besitz ergriffen hatte und nun eifersüchtig war, ermordete Norman Bates weitere Personen. Am Ende des Romans hat Normans Mutter vollständig seine Persönlichkeit übernommen. Verfilmt wurde der Roman u.a. von Alfred Hitchcock im Jahre 1960. Der für vier Oscars nominierte Film gilt als eines seiner zentralen Werke und ist ein Klassiker des amerikanischen Kinos.

 

07b  Stimmenhören bei Kindern

Es gibt nicht wenige Kinder, die "eine Stimme" aus ihrem Bauch mit ihnen reden hören. Eltern kann so etwas sehr verängstigen, die Kinder selbst aber auch. Die wenigsten davon betroffenen Kinder sprechen darüber wenn sich solch eine Stimme meldet und plötzlich "Hallo" sagt. Es gibt aber auch Kinder, die damit aufwachsen. Sie gewöhnen sich daran wie an den Besuch der Schule. Zugleich gehen Kinder eher davon aus, dass alle anderen solche Stimmen auch haben und dass es vielleicht normal ist.

 

Manchmal sind es Frauenstimmen, manchmal Männerstimmen, manchmal undefinierbare Stimmen (wie ein Männchen im Bauch, ein kleiner Kobold oder der Bauch selber, so die Beschreibungen). Manchmal wird die Stimme verstanden, manchmal nicht (z.B. undefinierbares Stimmengewusel oder zu leise z.B. Flüsterstimme).

 

Manchmal tritt eine solche Stimme zusammen mit einem Kribbeln im Bauch auf. Die Kinder sind manchmal sehr verunsichert, häufig gewöhnen sie sich daran. Die Stimme wird dann zu einem persönlichen Begleiter, tritt aber nicht ständig in Aktion, sondern nur ab und zu. Eine solche Stimme sagt z.B.: "Schau mal!" oder "Guck mal!" oder einfach nur "Hallo". Einige Kinder glauben, es sei ein Toter, der sie zu irgendetwas auffordern oder aus dem Schlaf aufwecken will.

 

Bei derartigen Wahrnehmung handelt es sich jedoch weniger um eine gestörte Wahrnehmung, als vielmehr um eigenständige krankhafte Phänomene von wahrnehmungsähnlichem Charakter. Bei Kindern werden Stimmen eher als Scherz oder kindliche Spinnerei abgetan. In wenigen Fällen erfolgt der Gang zum Psychiater. Bei Kindern wird Stimmenhören von einigen Fachleuten als nicht ungewöhnliches Phänomen betrachtet, das irgendwann wieder endet (z.B. während bzw. spätestens nach der Pubertät).